Ökologische Grundlagen
Natürliche und anthropogene Ausbreitung
Die Verbreitungsgebiete von Arten sind das Ergebnis dynamischer Prozesse und damit ständigen Veränderungen unterworfen (z.B. die Wiedereinwanderung von Arten aus südlichen Refugien nach dem Ende der letzten Eiszeit in Europa; siehe auch Klimawandel). Arealveränderungen, also auch die Ausbreitung von Arten in bisher von ihnen nicht besiedelte Gebiete, sind daher häufig natürliche Prozesse.
Dem steht die anthropogene Ausbreitung gegenüber, bei der eine Art ihre Arealgrenze nicht "Stück für Stück" weiter nach außen verschiebt, sondern sich in oft weit von ihrem natürlichen Areal entfernten Gebieten ansiedelt. Waren- und Personenaustausch durch Verkehr und Handel überwinden dabei die natürlichen Ausbreitungsschranken und ermöglichen eine transkontinentale Ausbreitung in Regionen, die die Art auf natürlichem Wege nicht erreicht hätte.
Die Hälfte der in Deutschland etablierten Neophyten wurde dabei beabsichtigt eingeführt; die meisten davon als Zierpflanzen (ca. 30% aller Neophyten), der Rest als land- und forstwirtschaftliche Nutzpflanzen (ca. 20% aller Neophyten). Die andere Hälfte der Neophyten wurde im Zuge von Verkehr, Personen- und Warenaustausch unbeabsichtigt eingeschleppt.
Im Gegensatz zu den gebietsfremden Wirbeltieren, die größtenteils absichtlich ausgebracht wurden (u.a. durch Fischerei oder Jagd), sind die gebietsfremden Wirbellosen in den meisten Fällen unbeabsichtigt nach Deutschland eingeschleppt worden (u.a. als Begleitarten in Blumentöpfen, im Ballastwasser oder an der Außenhaut von Schiffen).
Neobiota in Deutschland
Von den seit 1492 bis heute insgesamt wohl 12.000 durch den Menschen nach Deutschland gebrachten Gefäßpflanzenarten konnten sich bislang ungefähr 440 Arten außerhalb besiedelter Bereiche etablieren (etablierte Neophyten), weil ihre Ansprüche mit den Standortbedingungen gut übereinstimmen, sie eine bisher dort unbesetzte "Lücke" besetzen oder ihre Fraßfeinde (Schädlinge) fehlen. Etwa 40 Neophyten haben invasiven Charakter, indem sie einheimische Arten, Lebensgemeinschaften oder Biotope gefährden (invasive Neophyten).
Von den tausenden gebietsfremden Tierarten, die seit 1492 bis heute durch den Menschen nach Deutschland absichtlich oder unabsichtlich eingeführt wurden, haben sich bislang ungefähr 450 Arten in der Natur etablieren können (etablierte Neozoen). Etwa 10 % der etablierten Neozoenarten gelten in Deutschland als invasiv (invasive Neozoen).
Eine genauere Übersicht zu der Anzahl nachgewiesener Archäobiota- und Neobiota-Arten innerhalb der verschiedenen taxonomischen Gruppen findet sich unter Anzahl gebietsfremder Arten.
Zusätzlich wird eine große Anzahl weiterer gebietsfremder Tierarten in Aquarien, Terrarien, Gehegen und Volieren gehalten. Auch werden regelmäßig vor allem in Gewächshäusern Wärme liebende Neozoen gefunden (z.B. Blatt- und Schildläuse, Schaben, Ohrwürmer). Viele dieser Arten könnten - wenn sie freikämen - in Freiheit nicht überleben bzw. sich nicht fortpflanzen. Es gibt aber auch Ausnahmen, wie die aktuelle Ausbreitung des Asiatischen Marienkäfers (Harmonia axyridis) zeigt, der in Gewächshäusern zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt wurde. Es ist zudem davon auszugehen, dass der Klimawandel weitere Etablierungschancen für gebietsfremde Arten eröffnen wird.
Bei der angegebenen Anzahl etablierter Neozoen ist momentan noch mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen, da für viele Tiergruppen der Erfassungsgrad immer noch gering ist.
Die "Zehner-Regel"
Ähnliche Größenordnungsverhältnisse zwischen Transport, Etablierung sowie invasiven und nicht-invasiven gebietsfremden Arten wurden auch in anderen Teilen der Welt festgestellt, woraus die so genannte "Zehner-Regel" abgeleitet wurde:
- 10 % der eingeführten oder eingeschleppten Arten halten sich unbeständig,
- 10 % davon etablieren sich dauerhaft in naturnahen Lebensräumen,
- wiederum ca. 10 % dieser eingebürgerten Arten können unerwünschte Auswirkungen und damit invasiven Charakter haben.
D.h., von 1.000 eingeführten oder eingeschleppten Arten kommen demnach 100 unbeständig vor, 10 etablieren sich dauerhaft und nur eine Art (= 0,1% aller eingeführten oder eingeschleppten bzw. 10% aller etablierten gebietsfremden Arten) wird invasiv.
Etablierungsvoraussetzungen
Für eine erfolgreiche Etablierung scheinen einige Arteigenschaften einen besonderen Konkurrenzvorteil darzustellen. Dazu gehören beispielsweise eine hohe Reproduktion, ein hohes Potenzial für eine Fernverbreitung, eine starke Wuchskraft oder eine hohe Toleranz gegenüber Störungen bzw. eine Bevorzugung nährstoffreicher Böden. Auch eine gewisse Plastizität des Genoms ermöglicht offensichtlich eine schnellere Anpassung an die neue Umwelt und begünstigt damit die Etablierung und Ausbreitung von Arten.
Folglich spielen auch die Standorteigenschaften wie z.B. der Nährstoffhaushalt oder die Störungsintensität der neu besiedelten Lebensräume eine wesentliche Rolle für den Ansiedlungserfolg. So sind in Mitteleuropa stärker gestörte und nährstoffreiche Standorte wie Äcker, Straßenränder und Bahnflächen deutlich reicher an Neophyten als z.B. Wälder und Moore.
Anders verhält es sich allerdings in lange isolierten Ökosystemen wie auf Inseln, wo sich die Arten "ungestört von außen" über einen sehr langen Zeitraum entwickelt haben. Diese besonders stark aufeinander eingespielten Artengemeinschaften können durch neue Arten sehr leicht in ihrem Gleichgewicht gestört werden, so dass z.B. in Hawaii die Biomasse der Neophyten bereits die der heimischen Arten übersteigt und schon 10% der einheimischen Pflanzenarten durch Neophyten verdrängt wurden und damit dort ausgestorben sind.
Jedoch ist es nicht sicher vorhersagbar, ob sich Arten in einem neuen Gebiet etablieren oder dort gar invasiv werden können, selbst wenn Ansprüche und Eigenschaften der Art bekannt sein sollten. Zudem etablieren sich Neophyten bzw. Neozoen oft zuerst nur lokal und breiten sich über lange Zeit nicht nennenswert aus (sog. lag-Phase), können dann aber nach Jahren mehr oder weniger unvermittelt und rasant ihr Areal erweitern (z.B. das Schmalblättrige Greiskraut, Senecio inaequidens). Damit kommt einem Frühwarnsystem und einer dauerhaften Beobachtung von Neobiota eine entscheidende Rolle zu (Maßnahmen).