Campylopus introflexus
1 Beschreibung der Art
Campylopus introflexus (Hedwig) Bridel (Dicranaceae), Kaktusmoos
1.1 Aussehen
Das Kaktusmoos bildet dichte hell- bis olivgrüne Matten und ausgedehnte Moosteppiche. Die Stämmchen werden 0,5-5 cm hoch. Die Blättchen sind 4-6 mm lang, aufrecht, im feuchten Zustand abstehend, im trockenen Zustand anliegend, lanzettlich, ganzrandig, Blattgrund durchsichtig. Die Blattspitze läuft meist in ein vor allem im oberen Stämmchenbereich auffallend rechtwinklig abgebogenes Glashaar aus, was die Art auch für mooskundliche Laien erkennbar macht. Im trockenen Zustand bilden die in verschiedene Richtungen abstehenden Glashaare von oben betrachtet weiße Sterne. Kapsel braun, 1,5 mm lang, ihr Stiel 7-12 mm lang und gerade, gelblich, im Alter braun. Sporophyten oft zu mehreren an einer Pflanze.
1.2 Taxonomie
Die Art wurde ursprünglich als Dicranum introflexum Hedwig beschrieben. Als weitere Synonyme für C. introflexus werden angegeben: C. polytrichoides auct. p.p., C. lepidophyllus (C. Muell.) Par. fide Sim. Früher wurde der Name C. introflexus aufgrund einer Verwechslung für C. pilifer Brid., seinen nächsten europäischen Verwandten, verwendet.
1.3 Herkunftsgebiet
Campylopus introflexus stammt aus der südlichen Hemisphäre, aus Südamerika, Afrika, Australien und pazifischen Inseln bis in subantarktische Bereiche. Es wächst hier auf vielfältigen Substraten von Meereshöhe bis in 200 m Höhe. In Nordamerika ist es ebenso wie in Europa eingeschleppt worden und ist dort vor allem an der Westküste der USA und Kanadas häufig.
1.4 Biologie
Das Kaktusmoos wird in Deutschland nur selten mit Sporophyten gefunden. Seine Ausbreitung erfolgt hauptsächlich durch ungeschlechtliche Vermehrung durch abbrechende Stämmchenspitzen, aus denen sich neue Pflanzen entwickeln. Teile von Moospolstern werden mit dem Wind und durch Tiere ausgebreitet, nachdem sie beim Austrocknen zerbrochen oder von nahrungssuchenden Tieren gelockert worden sind. Dabei oder mit Sporen kann es auch isolierte und weit entfernte Standorte erreichen. Da die abbrechenden Sprossspitzen vor allem in jungen Beständen gebildet werden, kann ein Bestand schnell wachsen. Innerhalb von 10 Jahren sind so mehrere hundert m² große Dominanzbestände entstanden.
2 Vorkommen in Deutschland
2.1 Einführungs- und Ausbreitungsgeschichte / Ausbreitungswege
In Europa wurde es erstmalig 1941 in England beobachtet, wo es wohl von Menschen eingebracht wurde - wie oder mit welcher Motivation dies geschah, ist unbekannt. Von dort aus hat es sich über weite Teile Europas ausgebreitet und ist heute von Island bis Spanien, von Irland bis Polen (seit 1988 auf der Leba-Nehrung) vorhanden. 1959 wurde es am Cap Finisterre in Frankreich gefunden, 1961 in den Niederlanden, 1966 in Belgien, 1968 in Dänemark, 1976 in SW Schweden, 1978 in W Norwegen. Der Erstfund für Deutschland war 1967 bei Münster. Seit 1970 ist es auf den Ostfriesischen Inseln nachgewiesen.
2.2 Aktuelle Verbreitung und Ausbreitungstendenz
In Deutschland hat sich das Kaktusmoos von Westen her ausgebreitet und besiedelt heute die gesamte Nordseeküste mit Schwerpunkt auf den West- und Ostfriesischen Inseln sowie die Ostseeküste. Neben den Vorkommen auf Küstendünen ist es auch im Binnenland zu finden, so dass die Art inzwischen in allen deutschen Bundesländern vorkommt. Die Ausbreitung scheint anzuhalten.
2.3 Lebensraum
Als Pionier besiedelt Campylopus introflexus offene, naturnahe und anthropogene Standorte mit zumeist oberflächlich trockenen, sauren Sandböden wie Silbergrasfluren der Küstendünen und des Binnenlandes, Zwergstrauch-Heiden, Flechten-Kiefernwälder und offene Sandflächen in Bergbaufolgelandschaften. Großflächige Dominanzbestände sind vor allem von Küstendünen bekannt.
In Großbritannien besiedelt es seltener Sand- oder Steinböden, sondern torfige Böden, feuchte Heiden, Moore, besonders wo diese durch Torfstechen oder Abbrennen gestört sind.
An der Nordseeküste kommt das Kaktusmoos auf Böden mit mittlerem organischen Stoffgehalt (Tiefe 0-2: cm 1,8%, Tiefe 2-10 cm: ca. 0,6%), einem pH-Wert zwischen ca. 4,5 und 5 und niedrigen Gehalten an pflanzenverfügbaren Kationen vor. Entlang der Ostseeküste besiedelt es die Dünenstandorte mit den niedrigsten pH-Werten (zwischen 3,5 und 4,3), die bodenkundlich Sandseggen-Dominanzbeständen ähnlich sind. Der Gehalt an organischer Substanz (0-10 cm) liegt im Mittel bei 0,48%, der Gesamt-Stickstoffgehalt im Mittel bei 0,029%; der Anteil austauschbaren/pflanzenverfügbaren Calcium am Gesamtcarbonatgehalt ist im Vergleich zu anderen Pflanzengemeinschaften der Dünen auf ein Minimum herabgesetzt.
2.4 Status und Invasivität der Art in benachbarten Staaten
Campylopus introflexus ist heute im ganzen westlichen Europa bis nach Polen und die Slowakei im Osten zu finden. In vielen Ländern kommt es zerstreut vor und wird als unproblematisch eingeschätzt, z.B. in der Slowakei, der Schweiz und in Frankreich (Bretagne). In den Niederlanden ist das Kaktusmoos seit 1961 bekannt, in Belgien seit 1966. Es hat sich in beiden Ländern in den letzten 20 Jahren stark ausgebreitet und ist heute weit verbreitet. Es gilt hier als Gefährdungsursache vor allem für andere Moose und Flechten und trägt den Namen "tankmos", da es im 2. Weltkrieg mit Panzern ausgebreitet worden sein soll. In Österreich sind nach dem Erstfund 1985 etwa ein Dutzend weiterer Fundorte bekannt geworden, mit einer weiteren Ausbreitung wird dort gerechnet.
3 Auswirkungen
Die in Sandtrockenrasen der Küstendünen häufigen, großflächigen Dominanzbestände von Campylopus introflexus wirken sich auf die dort charakteristische Artenzusammensetzung aus, sie verändern ganze Lebensgemeinschaften und die Standortbedingungen.
3.1 Betroffene Lebensräume
An der Küste kommen Dominanzbestände besonders in Graudünen vor, kaum in den älteren Braundünen. In den Graudünen sind vor allem Silbergrasfluren betroffen; in den Braundünen siedelt es in Lücken von Krähenbeer- und Besenginsterheiden. Stark besiedelte Silbergrasfluren werden z.T. als eigene Gesellschaft – die Campylopus introflexus-Gesellschaft klassifiziert.
3.2 Tiere und Pflanzen
Campylopus-Dominanzbestände gehen oft aus der Besiedlung offener Sandstellen, aber auch aus einer Verdrängung anderer, zuvor bestandsbildender Arten (wie Dicranum scoparium, Polytrichum juniperinum, P. piliferum) hervor. Dominanzbestände wirken durch die direkte Raum- und Lichtkonkurrenz, sowie durch Veränderung des Wasserregimes auf andere Pflanzenarten.
In einem ersten Stadium der Einwanderung in die Silbergrasflur verändert sich ihre quantitative Zusammensetzung, d.h. die Individuenzahl der meisten charakteristischen Arten geht stark zurück und das Erscheinungsbild der Silbergrasfluren verändert sich.
Schließlich kann es zu geschlossenen Moosteppichen kommen, die sich „wie ein Leichentuch“ über die Graudünen legen und anderer Arten, sowohl Gefäßpflanzen als insbesondere auch andere Moose und Flechten, verdrängen. Die Bestände sind artenärmer und die Zusammensetzung und das Erscheinungsbild so weit verändert, dass die Silbergrasflur mehr oder weniger vollständig ersetzt wurde. Dies führt zur Vernichtung insbesondere flechtenreicher Silbergrasfluren, die zu den besonders schützenswerten Habitaten nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie gehören. Auch wenn sich die typischen Dünenarten insgesamt noch in den Dünenbiotopen halten können, verursacht das Kaktusmoos deren zunehmende Seltenheit und kann somit zu ihrer Gefährdung beitragen.
Die Moosteppiche bilden infolge Trockenheit oft Risse und werden durch Tiere (Fasane, Drosseln, Kaninchen) „umgewühlt“, wodurch offene Stellen entstehen, die schnell wieder von Campylopus introflexus besiedelt werden, was zu einer Verjüngung der Bestände beiträgt. Unbekannt ist, ob sich in diesen Lücken auch andere Pflanzen ansiedeln.
Die Umwandlung von offenen Habitaten könnte eine Ursache für den Rückgang des Brachpiepers (Anthus campestris) sein, u.a. durch eine Verringerung von Arthropoden als Nahrungsquelle aber auch durch Zerstörung geeigneter Brutplätze. Weitere Auswirkungen auf Tiere sind noch nicht bekannt geworden.
3.3 Ökosysteme
Campylopus-Matten verändern das Wasserregime des Standortes: Einerseits erwärmen sich die dunklen Moospolster stärker als helle Sandflächen, was ein stärkeres Austrocknen zur Folge haben kann, andererseits speichern die Polster das Wasser länger. Ob die Wasserbilanz ausgeglichener ist, ist jedoch unklar.
Wo es als Pionier vegetationsfreie, lockere Sande besiedelt, diese festlegt und dichte, mehrere Zentimeter hohe Teppiche bildet, wird die Ansiedlung anderer Moose und Flechten der natürlichen Dünenvegetation und die Keimung vieler Gefäßpflanzen verhindert. Insgesamt aber wird die Sukzession beschleunigt, da die Sande durch C. introflexus festgelegt werden und Besenheide (Calluna vulgaris) und Geschlängelte Schmiele (Deschampsia flexuosa) in der Lage sind, sich in den Campylopus-Beständen anzusiedeln und diese in der Sukzession möglicherweise abzulösen. Wie sich dies aber auf die langfristige Ökosystemdynamik auswirkt, ist nicht bekannt.
3.4 Menschliche Gesundheit
Keine Auswirkungen bekannt oder zu erwarten.
3.5 Wirtschaftliche Auswirkungen
Keine Auswirkungen bekannt oder zu erwarten.
4 Maßnahmen
4.1 Vorbeugen
Da das Kaktusmoos von Menschen nicht beabsichtigt ausgebracht wird und die unbeabsichtigte Ausbreitung beispielsweise im Schuhprofil kaum zu verhindern ist, können Vorbeugemaßnahmen nur gegen die indirekte Förderung der Art ergriffen werden. Dazu gehören z.B. der Verzicht auf anthropogene Bodenstörungen und die Vermeidung der Versauerung und Eutrophierung der Böden, insbesondere durch die Herabsetzung der Nährstoffzufuhr mit dem Niederschlag.
4.2 Allgemeine Empfehlungen zur Bekämpfung
Mit der direkten Bekämpfung von Campylopus introflexus liegen bisher kaum Erfahrungen vor. Angesichts seiner Ausbreitungsfähigkeit bestehen für Gegenmaßnahmen nur zweifelhafte Erfolgsaussichten. Eventuell kann indirekt auf die Art eingewirkt werden, indem Faktoren abgeschwächt werden, die sie fördern.
4.3 Methoden und Kosten der Bekämpfung
In den Niederlanden gibt es Versuche, den Campylopus-Teppich maschinell zu entfernen, genaue Ergebnisse sind aber nicht bekannt.
In den Niederlanden konnte auf einer kleinen Flächen von 200 qm auch experimentell durch manuelles Abtragen der oberen Bodenschicht die natürliche flechtenreiche Silbergrasflur nicht wiederhergestellt werden, C. introflexus dominierte nach wenigen Jahren wieder. Dort liegen zudem in binnenländischen Silbergrasfluren Langzeituntersuchungen vor, wo die Art nach dem Entfernen von Pinus sylvestris, z.T. kombiniert mit Brand, besonders schnell bestandsbildend war, vor allem bei Bodenstörung und Nichtentfernen von verbleibender Humusauflage. Auch nach Brand dominierte das Moos nach fünf Jahren wieder.
Grundsätzlich dürfte gelten, dass alle Maßnahmen wenig erfolgversprechend sind, solange eine atmosphärische Nährstoffzufuhr besteht. Dies zeigen Versuche, wonach C. introflexus vor allem positiv mit NPK-Düngung und nachrangig mit der Wasserversorgung korreliert.
Da Campylopus introflexus gegenüber dem Herbizid Asulox, welches in Großbritannien zur Bekämpfung des Adlerfarns eingesetzt wird, tolerant ist, ist diese Bekämpfungsmethode somit – abgesehen von dem grundsätzlich kritisch zu beurteilenden Einsatz von Herbiziden – ebenfalls ungeeignet.
Da Kaninchen Bruchstücke des Mooses ausbreiten, könnte ihre Reduktion in Küstendünenökosystemen der Ausbreitung des Kaktusmooses entgegenwirken. So beeinflussen Kaninchen das Verhältnis von Moosen und Gefäßpflanzen, da die Gefäßpflanzen gefressen werden und somit die Dominanz von C. introflexus gefördert wird. Außerdem schaffen sie neue offene Stellen, die ebenfalls vom Kaktusmoos besiedelt werden können. Die Reduktion sehr großer Kaninchenbestände erscheint auch für andere Naturschutzziele sinnvoll, allerdings verlangsamen Kaninchen als positive Auswirkung die Verbuschung. Daneben wirft eine Reduktion von Kaninchen natürlich die Frage nach Erfolg versprechenden Methoden und deren Akzeptanz auf.
Eine natürliche Übersandung mit kalkreicheren Sanden weiter seewärts liegender Dünen kann der Ausbreitung lokal entgegenwirken und das Vorherrschen von C. introflexus in flechtenreiche Silbergrasfluren verhindern.
Weitere Erfahrungen mit Bekämpfung sind bisher nicht bekannt geworden.
5 Weiterführendes
5.1 Literatur
- Biermann, R. (1996): Campylopus introflexus (Hedw.) Brid. in Silbergrasfluren ostfriesischer Inseln. Ber. d. Reinh.-Tüxen-Ges. 8:61-68.
- Biermann, R. & Daniëls, F.J.A. (2001): Vegetationsdynamik im Spergulo-Corynephoretum unter besonderer Berücksichtigung des neophytischen Laubmooses Campylopus introflexus. Braunschweiger Geobotanische Arbeiten 8:27-37.
- Equihua, M. & Usher, M. B. (1993): Impacts of carpets of the invasive moss Campylopus introflexus on Calluna vulgaris regeneration. - Journal of Ecology 81:359-365.
- Ketner-Oostra, R. & Sýkora, K. V. (2004): Decline of lichen-diversity in calcium-poor coastal dune vegetation since the 1970s, related to grass and moss encroachment. – Phytocoenologia 34,3:521-549.
- Koppe, F. (1971): Bryofloristische Beobachtungen auf der Insel Langeoog. - Natur und Heimat 31,4: 113-134.
- Rowntree, J. K., Lawton, K. F., Rumsey, F. J. & Sheffield, E. (2003): Exposure to Asulox inhibits the growth of mosses. – Annals of Botany 92:547-556.
5.2 Bearbeitung
Dieser Artensteckbrief wurde 2003 erstellt von:
Dr. Uwe Starfinger & Prof. Dr. Ingo Kowarik, Institut für Ökologie der TU Berlin
und Dr. Maike Isermann, Vegetationsökologie und Naturschutzbiologie der Universität Bremen